Vortrag von Carsten Möhle alias Bwana Tucke-Tucke in der EXPERIMINTA in Frankfurt am 20.02.2019
Wieder stand ein interessantes, aber diesmal auch problematisches Thema, das die dunkle Seite der deutsch-namibischen Beziehungen beleuchtete, im Mittelpunkt des Vortrags von Carsten Möhle in der gut besuchten EXPERIMINTA in Frankfurt.
Ungewisse Gewissheiten oder gewisse Ungewissheiten - ein Versuch aufzuzeigen was war und Grundlageninformationen bereit zu stellen für eine schwierige Diskussion über Erinnerungskulturen. Zudem aktuell, da die Bundesregierung seit Mitte 2015 die brutale Niederschlagung dieses Aufstandes als Völkermord anerkannt hat und zur Zeit in Gesprächen mit Regierungsvertretern über die neuen Sprachregelungen und Bewertungen dieser gemeinsamen deutsch-südwestafrikanischen Geschichte verhandelt wird.
"Ungewisse Gewissheiten" lautet der Titel eines Aufsatzes der Historikerin Brigitte Lau (1955 - 1996), der sich insbesondere auf Zahlen zum Herereo-Krieg bezieht und den Herr Möhle vorstellte. Lau stellte darin die Bevölkerungszahl der Herero vor dem Krieg, die Schätzung der Überlebenden und die Stärke der Schutztruppen wie auch die Bedeutung des Vernichtungsbefehls von Trothas infrage. Sie bestritt nicht den grausamen Tod tausender Herero in der Omaheke, sprach aber von einem "nationalen Exodus" ins Exil und in den Tod um der kolonialen Unterdrückung zu entgehen.
Herr Möhle hat in den 21 Jahren, die er in Namibia lebt, viele und gute Kontakte zu den Herero aufgebaut und erzählte auch von diesen Erfahrungen. Rund 25 % der Herero haben deutsche Vorfahren. In persönlichen Gesprächen - so sagte er - wird deutlich, wie wichtig es ihnen ist auf Augenhöhe behandelt zu werden.
Erst vergleichsweise spät, 1884/85, kam es zur Gründung deutscher Kolonien in Afrika. Sowohl mit den Nama im Süden als auch den Herero im Norden schloss das deutsche Reich zeitweise Schutzverträge ab. Die überwiegende Zeit waren einige Herero-Verbände Verbündete. Bis 1904 gab es eine Zusammenarbeit zwischen Samuel Maherero und Gouverneur Theodor Leutwein zum Schutz vor Angriffen und Plünderungen durch die Nama.
Im Umgang mit den Bewohnern des Landes sollten die Deutschen neutral sein, was aber in der Praxis nicht eingehalten wurde. Namibische Volksgruppen wurden benachteiligt und bei Vergehen ungleich härter bestraft als europäische Siedler.
Die Lebensgrundlage der Herero waren ihre Rinder, die auch religiöse Bedeutung haben. Die große Rinderpest im Jahr 1897 und eine Malaria-Epidemie sorgten für eine extreme Schwächung des stolzen Herero-Volkes. Die existenzielle Bedrohung, die aggressive Siedlungs- und Reservatspolitik, zunehmender Rassismus der Siedler und betrügerisches Händler- und Kreditwesen waren denn auch die Hauptursachen für die Erhebung der meisten Ovaherero-Verbände unter Führung von Samuel Maherero Anfang 1904.
Die Hereros verabredeten sich loszuschlagen und alle deutschen Siedler zu töten ausgenommen Frauen, Kinder und Missionare, was auch weitgehend eingehalten wurde. Am 11. auf den 12. Januar 1904 begann der Aufstand: Farmen und Polizeistationen wurden überfallen, Städte wie z.B. Okahandja belagert. 123 Farmer wurden getötet. Daraufhin wurde Verstärkung für die Schutztruppe angefordert. Darunter waren deutsche Reservisten, Marines, die nicht für Wüstenmärsche geeignet waren sowie Freiwillige aus dem deutschen Reich, zum Teil auf der Suche nach Abenteuern, die auf der Überfahrt auf dem Schiff erst ausgebildet werden mussten. Klima und Krankheiten sorgten für Ausfälle, so dass nach kurzer Zeit nur noch rd. 10% für den Kampf geeignet waren.
Die Soldaten hatten das Ziel Ordnung zu schaffen, die Siedler jedoch forderten eine militärische Niederschlagung, wollten Rache.
Der vergleichsweise moderate Gouverneur Leutwein wurde als Kommandeur der Schutztruppe entmachtet und Lothar von Trotha zum militärischen Oberbefehlshaber bestellt. Die Herero hatten etwa sechs Wochen lang die Oberhand. Zwischen 12.000 und 20.000 - manche Quellen nennen viel höhere Zahlen - hatten sich mit ihren Familien und Viehherden am Waterberg versammelt. Sie hatten ein Friedensangebot erwartet, was die übliche Vorgehensweise war. Von Trotha aber wollte die bedingungslose Kapitulation.
Über die Schlacht am Waterberg, das Gefecht bei Ohamakari, wird unterschiedlich berichtet: Am 11.8.1904 gab größere Scharmützel gegen rund 5000 Herero. Die Bilanz nach einem ganzen Tag Schusswechsel: 25 tote Deutsche und 70 - 86 tote Herero. Die geplante Einkesselung der Herero misslang, und diese zogen ab in Richtung Osten. Auch die Soldaten waren geschwächt, verfolgten sie aber nach ein paar Tagen Pause. Andere beschreiben die Gefechte als eine große Schlacht, in der die Kolonialarmee die Herero-Verbände geschlagen und zur Flucht in die wasserlose Omaheke-Steppe gezwungen habe.
Jedenfalls gab es zu wenig Wasserstellen dort und diese waren bald durch Tote und totes Vieh verseucht. Ein großer Teil des Herero-Volkes verdurstete.
Am 2 Oktober erließ von Trotha den berüchtigten Vernichtungsbefehl: "Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen." Die Bedeutung dieser Proklamation ist bis heute umstritten - so Möhle. Ein verwerflicher Befehl, den eigentlich kein deutscher Offizier hätte geben dürfen. Ein Befehl, er eigentlich nicht befolgt hätte werden dürfen. Der Erlass kam aber in der Truppe an und wurde erst rund zwei Monate später zurückgezogen. Ob die Proklamation wirksam war, müsste untersucht werden. Aber ob befolgt oder nicht - sechs Wochen später waren tausende Herero tot.
Samuel Maherero konnte fliehen; er war im Exil in Botswana und starb 1923. Die überlebenden Herero wurden interniert. Missionare waren gesandt worden um so viele wie möglich wieder in die Kolonie zurückzubringen und zu "integrieren" . Sie kamen als Strafarbeiter in Gefangenenlager, bzw. Konzentrationslager wie auch Nama, die erst im Oktober 1904 in die Kämpfe eingegriffen hatten. Zuvor Verbündete der Schutztruppe entschieden sich die meisten Nama-Gruppen nach der Niederlage der Herero im Süden des Landes zum bewaffneten Widerstand, verfolgten aber eine effektivere Guerillastrategie. Jedoch nach dem Tod Witboois und anderer Anführer fügten sie sich den Unterwerfungsverträgen. Über die Hälfte der Herero-Bevölkerung - einige sprechen von 75% der Bevölkerung - sind durch den Krieg, auf der Flucht, in den Lagern oder durch Zwangsarbeit getötet worden, aber von wie vielen sei nicht sicher. Zahlen von 60.000 bis 80.000 werden genannt. Auch die Hälfte der rund 20.000 Menschen zählenden Bevölkerungsgruppe der Nama fielen der Vernichtungspolitik zum Opfer. Die hohe Todesrate in den Lagern lag an der schlechten Verpflegung, Krankeiten und dem Klima.
Die Überlebenden waren landlos. Aber immer mehr deutsche Siedler kamen und nahmen weite Landesteile in Besitz. Noch heute besteht eine extrem ungleiche Verteilung von Land und Ressourcen zwischen weißer und schwarzer Bevölkerung. Der Aufstand und die Folgen boten Diskussionsstoff wie auch der Umgang mit dieser gemeinsamen Geschichte und wie man sich ihrer erinnert. Bei den Herero und Nama gibt es eine Erinnerungskultur, die der Opfer gedenkt. Alljährlich am Herero-Tag und dem Heroes´ Day finden Gedenkveranstaltungen an den Gräbern der Vorfahren statt. Diese Feiern und Paraden dienen nicht nur dem Ahnengedenken, sondern sind auch eine Demonstration des Anspruchs auf Gleichberechtigung und Eigenständigkeit, haben darüberhinaus auch die Bedeutung einer "symbolischen Landbesetzung".
Die Siedler schufen eine Erinnerungskultur mit starkem Bezug auf den Krieg um eine eigenständige Identität in dem afrikanischen Land zu festigen und ihren Machtanspruch zu zeigen. Auch in Deutschland gibt es einige Denkmäler zur Kolonialzeit, die aber v.a. die Verluste der kolonialen Streitkräfte betreffen, nicht die Gräueltaten. Die Erinnerung an Verbrechen der Kolonialzeit sollte aber Teil der deutschen Gedenkkultur werden.
Herr Möhle bemängelte die Ignoranz hinsichtlich der zentralen Bedeutung, die bei den Herero der mündlichen Weitergabe von Tradition und damit auch von Trauma zukommt. Die Herero haben eine Erzählkultur, eine orale Literatur, die bis heute gepflegt wird (Preislieder, die bei den Festlichkeiten gesungen werden), was widerlegt, dass sie nicht über den Krieg sprechen würden und er bei der nachfolgenden Generation in Vergessenheit geraten sei.
Ziel ist die Gründung einer Stiftung, die eine gemeinsame Gedenk- und Erinnerungskultur etablieren soll. Dazu gehört auch eine Neufassung der Schulbücher.
Ebenso Thema der Diskussion waren die Forderungen nach Wiedergutmachung, bzw. Reparationszahlungen an die Opfer. Unterschiedliche Summen von Entschädigungszahlungen waren gefordert worden. Im Januar 2017 reichten Vertreter der Ovaherero und der Nama in New York eine Sammelklage gegen Deutschland ein, die aber Anfang dieses Jahres abgewiesen wurde.
Bei den Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag der Herero-Aufstände sollte die damalige deutsche Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul eine Rede ohne entschädigungsrelevante Entschuldigung halten, aber sie sprach eine ausdrückliche Entschuldigung für den Völkermord an den Herero und Nama durch die deutsche Kolonialmacht aus. Daraufhin hielt der Paramount Chief der Herero Kuaima Ruruako nicht seine vorbereitete, sondern eine neue Rede und sagte, dass man die Entschuldigung annähme und es eine hervorragende Grundlage wäre auf der man weiterreden könnte.
Aber erst im Juli 2015 wurden die Verbrechen zwischen 1904 und 1907 erstmals von Bundestagspräsident Lammert als "Völkermord" bezeichnet.
Es gab eine Versöhnungsinitiative, aber bis heute wird verhandelt. Für die deutsche Regierung ist es eine politisch-moralische Frage, keine Rechtsfrage. Herero und Nama wollen die Anerkennung als Völkermord, eine offizielle Entschuldigung der deutschen Regierung sowie eine Entschädigungsleistung. Rukoro, seit 2014 Chief der Herero, kritisiert, dass die Verhandlungen mit der namibischen Regierung, nicht mit Vertretern der Opferorganisationen geführt werden. Denn von der Regierung, die vom Volk der Ovambo dominiert wird, fühlt man sich nicht ausreichend vertreten. Sondergesandte für die Aufarbeitung der Vergangenheit sind Ruprecht Polenz und Zedekia Ngavirue, der direkte Verhandlungen der Herero mit der deutschen Regierung fordert. Die deutsche Regierung lehnt Reparationszahlungen an die Hinterbliebenen, bzw. individuelle Entschädigungen ab und bietet stattdessen mehr Geld für Entwicklungsprojekte z.B. im den Bereichen Bildung, Infrastruktur und Medizin.